Autor | Oe, Kenzaburo |
Titel | Der stumme Schrei |
Originaltitel | Man-en-gannen no futtoboru |
Genre | Drama |
Seiten | 365 |
Erscheinungsjahr | 1967 |
Auszeichnungen | |
Verfilmungen | |
Verlag | Fischer |
Wertung | |
Inhalt
Nachdem er mehrere Jahre in den USA verbracht hat, kehrt Takashi Nedokoro wieder nach Japan zurück. Dort
erwartet ihn bereits sein Bruder Mitsusaburo und dessen Frau Natsumi, deren Ehe seit der Geburt ihres behinderten
Kindes auf der Kippe steht. Gemeinsam machen sie sich auf in das Tal, in dem die Brüder ihre Kindheit verlebt
haben und in dem noch immer der Vorfahren gedacht wird, die an den Bauernaufständen gegen die neue Verfassung
teilgenommen haben. Hier zeigt sich die große Kluft zwischen Mitsusaburos eher nüchterner Sichtweise
der Geschehnisse, welche sein jüngerer Bruder Takashi ins Heldenhafte verklärt...
Rezension
Meine Güte, ist das schwermütig! So dachte ich bereits nach den ersten Seiten, in denen der Ich-Erzähler Mitsusaburo
in der trostlosen Landschaft seiner Gedanken wandelt. Seine Stimmung empfindet man daher sehr intensiv
mit, durchleidet die bleierne Festfahrenheit seiner Ehe und die Ungeduld, mit der Mitsusaburo den verklärten Blick
seines Bruders korrigieren will. Die Erinnerungen aller Beteiligten, zeigt sich, ist stark subjektiv eingefärbt von
Wünschen und Ansichten, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Der von aufrührerischen Ideen beseelte
Takashi gerät im Laufe der Geschichte immer tiefer hinein in eine Spirale der Gewalt, in deren Sog er unterzugehen
droht. In banger Erwartung spürt man das Unglück sich anbahnen und kann nichts dagegen tun. Die
Protagonisten sind gefangen in ihrem Schmerz und ihren komplizierten Beziehungen, die einen wundern machen,
warum diese eigentlich aufrechterhalten werden. Es ist schrecklich, diesern Verfall mit anzusehen und Oe
schafft es trotz der Wahl als Ich-Erzählung, objektiv zu bleiben. Damit meine ich nicht, dass er keine Position bezieht -
er scheint mir klar auf der Seite derer zu stehen, die dem alten Japan hinterhertrauern. Der Autor versteht
es, Verständnis für beide Parteien zu wecken, ohne dabei eine von ihnen zu verurteilen oder in den Himmel zu
erheben. Nebenbei bemerkt hat Oe 1994 den Nobelpreis für Literatur erhalten.
Noch eine Anmerkung, was die Übersetzer angeht, in diesem Falle gleich drei Leute. Rainer und Ingrid Rönsch
übertrugen den Roman aus dem Englischen, während Siegfried Schaarschmidt die deutsche Ausgabe mit der
japanischen verglichen hat. Mir lag der Druck aus dem Jahre 1994 vom Fischer Taschenbuch Verlag vor und ich
muss leider sagen, bisher sind mit noch nie so viele Fehler in einem Roman begegnet. Prozentual gesehen sicher
verschwindend gering, aber sehr störend: "sternhagelbetrunken", "ich behaubte nicht", ihm seine einzige Waffe
abzulisten", "alle die hohen Bäume", "Trainigshosen", "sagte ich, ganz auf meiner Hut", "unerwarteten unerwarteten
Gesprächigkeit", "die Kälte nicht achtend" etc. etc. Der Satz auf Seite 266 wird gar niemals vollendet, auf
der darauffolgenden Seite wird ein ganz anderer weitergeführt. Wenn ich mit meinem Drang, alles zu verbessern,
etwas nicht ausstehen kann, so sind es fehlende Korrekturarbeiten. Zumal der Rest wirklich gut übersetzt
scheint, die bildhafte Sprache sehr eindringlich die Gedanken und Gefühle des Ich-Erzählers auf den Leser
zu übertragen vermag. Da fallen einem solche "Missstände" natürlich erst recht auf.
Aber dafür kann der Autor schließlich nichts und er hat einen wahrhaft intensiven Roman geschrieben. Wenn mir
wenigstens einer der Protagonisten sympathisch gewesen oder deren Handlungsweise nicht ganz so deprimierend
festgefahren gewesen wäre, hätte das Buch mir noch mehr zugesagt. So aber fragte ich mich, was die
Leute überhaupt dazu anhält, in solch einem selbstzerstörerischen Zustand zu verharren. Die einzige Möglichkeit,
auszubrechen, die der Autor ihnen zuzubilligen scheint, ist der Selbstmord. Sehr schwere Kost also, aber
sehr bewegend.